- Ein Teammitglied von mir war in einer Besprechung mit dem Abstimmungsverfahren unzufrieden. Da die Besprechung schön timegeboxt war, konnte er sein Anliegen auch nicht mehr vorbringen.
- Mit seinem Anliegen kam er zu mir, seinem ScrumMaster. Meine Antwort war: "Geh hoch und kläre das selbst mit der Person."
- Mein Teammember schrieb daraufhin eine E-Mail an den Kollegen, in der sinngemäß stand: "Ich bin unzufrieden mit der Art und Weise, wie das gelaufen ist und komme gleich hoch, um das mit dir zu klären." Diese Mail war nur an den Kollegen adressiert.
- Die Antwort des Kollegen kam prompt per Mail: Es gebe nichts zu klären, man könne im nächsten Meeting darüber reden. Diese E-Mail war allerdings nicht nur an den Kollegen, sondern an sämtliche Scrum-Teams adressiert. So um die 70 Leute durften also mitlesen.
- Der Kollege war sauer und wollte zurückmailen. Davon konnte ich ihn abhalten. Stattdessen habe ich - entgegen meiner sonstigen Vorgehensweise - an ihn geschrieben (ein Fehler, ich hätte direkt hochgehen sollen!): "Es ist unnötig, eine Email an alle zu schreiben, wenn die Angelegenheit nur zwei Leute betrifft. Komm doch kurz runter, dann können wir das diskutieren."
- Auch hier kam prompt die Antwort. Adressiert an sein Scrum-Team (immerhin...): "Es gibt nichts zu klären, regel das mit meinem ScrumMaster." - was zum Henker hat der damit zu tun?
- Hier habe ich endgültig begriffen, dass E-Mails ein Fehler sind und uns nicht helfen. Im Dialog mit meinem Teammitglied haben wir entschieden, dass er hoch geht und ein Gespräch versucht. Das hat er dann auch sofort gemacht.
- Ein paar Minuten später kam er wieder zurück - sauer und frustriert. Er wurde wohl als "Quertreiber" beschimpft und mit "hau ab" aus dem Büro geworfen. Auch mehrere Versuche der Gesprächsaufnahme haben hier nicht funktioniert.
- Wir einigten uns darauf, die Angelegenheit zu überschlafen.
Was ist bis hierher passiert? Die Sachebene war nicht das Thema, der Konflikt kam von der Beziehungsebene. Der angemailte Kollege hatte schon die erste Mail als Angriff aufgefasst. Statt den Konflikt auszutragen, wollte er ihn umgehen - daher die abwehrende Haltung. Meine E-Mail wurde dann als "runter zitieren" empfunden, was das Gefühl des Angriffs noch weiter verstärkt hat. Wieder wurde versucht, die Angelegenheit nicht selbst zu lösen, sondern zu delegieren ("Regel das mit meinem ScrumMaster"). Der Ansatz meines Teammitglieds eine persönliche Klärung herbeizuführen wurde ebenfalls als (massiver) Angriff erlebt: Ein groß gewachsener Mann, der den Türrahmen füllt und auch nach einer klaren Aufforderung ("Hau ab!") nicht weicht, sondern sagt: "Nein, ich will das jetzt klären!". Keine Fluchtmöglichkeit. In die Ecke gedrängt.
Umgekehrt hat mein Teammitglied das Verhalten des Kollegen als höchst unprofessionell und irrational erlebt. Er fühlte sich beleidigt und missverstanden - schließlich wollte er ihm nur die Hand reichen und die Angelegenheit aus der Welt schaffen. Ein Musterbeispiel von einem Konflikt.
Wie ging es weiter?
- Zunächst habe ich mit dem ScrumMaster des Kollegen gesprochen. Dieser hatte bereits mit dem Kollegen geredet und wusste daher über die Gefühlswelt dort Bescheid.
- Wir beschlossen, den Druck vom Kollegen zu nehmen und von uns aus keine weiteren Versuche der Klärung zu unternehmen. Gleichzeitig sollte der ScrumMaster mit dem Kollegen sprechen, ihn auf das gegenseitige Erleben der Situation hinweisen und betonen, dass alle involvierten Personen ihn sehr hoch schätzen. Auch unser Wunsch zur emotionalen Klärung des Vorfalls sollte betont werden.
- Dieses Gespräch fand statt und hatte zum Ergebnis, dass der Kollege sich selbst entschloss, von sich aus das Gespräch zu suchen.
- Leider erfolgte das Gespräch nicht. Die Überwindung war wohl zu groß für den Kollegen. Erst ein "Anschubsen" über den ScrumMaster führte dazu, dass das Klärungsgespräch (unter 4 Augen) wirklich statt fand.
- Die Kollegen entschuldigten sich und bereinigten die Situation. Aus Sicht der Konfliktparteien ist das Problem damit gelöst.
Was habe ich daraus gelernt?
- Jede noch so gut gemeinte E-Mail ist ein Fehler, wenn es um die Beziehungsebene geht
- Ich selbst sollte immer auf meine eigenen Ratschläge hören - auch wenn zur selben Zeit noch drei andere Leute etwas von mir wollen
- ScrumMaster sind wichtig - gerade weil sie das Vertrauen ihrer Teammitglieder genießen und dadurch auch die Beziehungsebene gut ansprechen können