Was ist eine Chimäre? Und was hat das mit Scrum zu tun? Fangen wir vorne an und sehen mal, was
Wikipedia dazu sagt:
Chimäre, Schimäre, teils Chimaera, Chimaira, Chimera (Eindeutschung bzw. Transliterationen von griechisch: Χίμαιρα Chímaira „die Ziege“) steht für:- Chimäre (Mythologie), ein Geschöpf der griechischen Mythologie
- Mischwesen, allgemein mythische Zusammenfügungen von Lebewesen
- Chimäre (Genetik), Organismen mit Erbinformationen verschiedener Individuen
- Trugbild, eine Einbildung, Täuschung
Jeder kennt die Sphinx (Chimäre aus Frauenkopf und Löwenkörper), den Greif (Löwenkörper und Vogelkopf sowie Flügel), den Pegasus (Pferd mit Flügeln) und den Mantikor (Löwenkörper, Menschenkopf, Skorpionschwanz und in manchen Darstellungen auch noch Drachenflügel).
Es gibt eine ganze Menge Scrum-Implementierungen, die ich als "Scrum-Chimären" bezeichne. Auch die Bezeichnungen "Frankenstein-Scrum" und "Hybrid-Scrum" sind durchaus gängig. Einfach erklärt: Es werden ein paar Elemente aus Scrum angewendet und mit anderen, meist bestehenden, Prozessen vernäht. Es gibt Fälle, in denen das wunderbar funktioniert. Das sind die Fälle, in denen das Unternehmen alle vernähten Teile vollständig durchdrungen sowie verstanden hat und erst danach beginnt, Anpassungen vorzunehmen. Solange diese Unternehmen ihr "Customizing" nicht Scrum nennen, spricht nichts dagegen.
99,9% der angepassten Prozesse werden allerdings sehr schnell zu einem Untier, wie die griechische und mittelalterliche Mythologie sie beschreiben: Meist Menschenfresser, gegen die nur absolute Helden überleben. Erfolgreiche Projekte sind hier eher unwahrscheinlich.
Scrum passt auf 16 Seiten (siehe aktueller
Scrumguide). Eigentlich sind es sogar nur 13, wenn man Deckblatt, Inhaltsverzeichnis und Danksagungen abzieht. Das ist nicht viel - aber genug für ein effizientes Framework zur Produktentwicklung (zählen Sie mal, wie oft das Wort "Software" im aktuellen Scrumguide steht...). Mit diesen relativ einfachen Mitteln erzeugt man Transparenz durch alle Bereiche des Projektes und stattet jeden Bereich mit einer Möglichkeit zur Inspektion und Adaption aus. Lässt man jetzt eines der wenigen Scrum-Elemente (3 Rollen, 3 Artefakte und 5 Events) weg, dann fällt damit automatisch die dazu gehörige Transparenz zusammen mit der Anpassungsmöglichkeit weg. In aller Regel ersetzt der stattdessen angenähte Prozess den entsprechenden Punkt, ohne eine vergleichbare Transparenz zu erzeugen. Meist werden die Teile von Scrum weggelassen, durch deren Transparenz am meisten Schmerzen entstanden sind (Was übrigens lächerlich ist: Wenn der Arzt bei Ihnen Krebs diagnostiziert - haben Sie den, weil Sie beim Arzt waren, oder hatten Sie den schon vorher, haben den Umstand jetzt aber transparent und können endlich etwas dagegen unternehmen?). Was dann noch übrig bleibt ist der alte Prozess, bei dem die bestehenden Mechanismen neue Etiketten aufgeklebt bekommen haben. Nach einiger Zeit stellt man dann fest, dass eigentlich alles noch genauso ist wie früher - oder sogar noch schlimmer, weil die hohen Erwartungen an Scrum "nicht erfüllt" wurden. Oft gehen dann einige Mitarbeiter - die Besten zuerst. Also wird das "Monster" umgebracht. Das klingt dann so:
Scrum funktioniert nicht! Bei uns ist außer Kosten nichts gewachsen.
Man sucht dann nach dem nächsten Etikett, dass man aufkleben kann - das alte hält schließlich nicht mehr.
Fazit: Es ist Ihr Unternehmen. Arbeiten Sie mit den Prozessen, die für Sie am Besten sind. Wenn für Sie Teile von Scrum in Frage kommen, aber nicht das Komplettpaket, nennen Sie es auch nicht Scrum. Machen Sie sich außerdem - wenn nötig mit Hilfe von echten Spezialisten - klar, welche Folgen Ihre Anpassungen haben. In 99,9% aller Fälle gilt: Mit dem Komplettpaket fahren Sie erheblich günstiger und effektiver. Zumindest, bis Sie das Thema durchdrungen haben und die Auswirkungen von Änderungen mit ihrer ganzen Tragweite begreifen. Chimären sind nicht ohne Grund seit der Antike ausgestorben.